Wir leben nicht ewig – Aber warum tun wir so?

Dass wir nicht ewig leben werden und wir selbst dafür verantwortlich sind, was wir für einen Fußabdruck hinterlassen, wurde mir zum ersten Mal während meines Studiums wirklich bewusst. Mein Großvater war gestorben und ich stellte mir die Frage, was am Ende eigentlich von einem Menschen bleibt – abgesehen von den Nachkommen. Bereits nach kurzer Zeit verblassten die Erinnerungen an meinen Opa, den ich als Kind regelmäßig an der Ostsee besuchte. Das machte mich nachdenklich. Wie würde es weiter gehen? Fotoalben landen in Kisten, die Kisten landen auf dem Dachboden und alles landet irgendwann… Ein Grab gibt es auch nicht für die Ewigkeit und nutzt eher dem Gedenken als dem Erinnern. All das führte letztlich dazu, dass ich etwas an dieser Situation ändern wollte. Ich wollte mit life-after.me dafür sorgen, dass möglichst viel von einem Menschen, seinen Ideen, seinen Liedern, seinen Gedanken – seinem Leben – bewahrt wird und der Nachwelt zur Verfügung steht…

Das Projekt habe ich nach einiger Zeit eingestellt, weil mir das Geld für die Entwicklung fehlte. Geblieben ist aber die Erkenntnis, dass unser Sein auf dieser Welt zeitlich begrenzt ist. Mit den Jahren wurde mir das sogar immer mehr vor Augen geführt. Ich bin nicht krank und hoffe, noch eine Weile auf der Erde weilen zu dürfen – aber wer kann das schon genau vorhersehen. Trotzdem habe ich beobachtet, wie Tage, Wochen und Monate ins Land gezogen sind. Und immer wieder habe ich mich dabei erwischt, wie ich sorglos mit der wichtigen Resource Zeit umgegangen bin – habe sie sinnlos verschwendet mit Dingen, an die ich nicht wirklich glaubte, habe sie verstreichen lassen und Sachen verschoben. Es geht hier nicht um Prokrastination, die durchaus erlaubt ist. Es geht um die Gestaltung meines Lebens.

Wie oft denke ich darüber nach, dass ich etwas unternehmen möchte – irgendwann in der Zukunft. Wie oft merke ich mir Orte, die ich gern bereisen möchte – irgendwann in der Zukunft. Wie oft ertappe ich mich dabei, wie ich mir ausmale, was ich in meinem Leben erreichen oder ändern möchte – irgendwann in der Zukunft. Ich habe mir für die Zukunft noch so viel vorgenommen – ich habe ja noch so viel Zeit. Aber habe ich das wirklich? Niemand weiß es. Was ich aber inzwischen weiß, ist genau das: Man kann es nie wissen. Und ich weiß, dass ich im Falle des Falles auf keinen Fall zurückblicken möchte und verpassten Chancen oder Träumen hinterher trauern will.

Dabei geht es nicht darum, bewusst getroffene Entscheidungen hinterher zu bereuen – es geht um die unbewussten Entscheidungen. Es geht um das „Entschiedenwerden“. Wir können nicht nicht entscheiden! Es liegt ganz allein in unserer Hand. Sicherlich lassen sich manche Entscheidungen aussitzen, aber wollen wir unser Leben nur aussitzen?

Unsere Geschichte, unsere Gesellschaft, unsere Kultur und Tradition geben uns Sicherheit und Halt auch in Fragen der Lebensgestaltung. Sie wirken unter Umständen aber auch als Gefängnis, getreu dem Motto „Das war schon immer so und es ist gut so.“ Das sorgt unter anderem dafür, dass wir uns seit der Kindheit auf den immer nächsten Schritt und den neuen Möglichkeiten im Leben freuen: Feuerwehrmann werden, aufs Gymnasium gehen, volljährig werden, den Uni-Abschluss, einen gut bezahlten Job finden, eine Familie gründen, Karriere machen, den Feierabend ersehnen, das Wochenende, den Urlaub und schließlich die Rente, wo wir ganz viel Zeit haben, um all das zu tun, was wir schon immer machen wollten. Und bei all dem Planen und in die Zukunft schieben, passiert etwas ganz entscheidendes, was wir vielleicht zwischenzeitlich aus den Augen verlieren, wenn wir diesen Weg nicht bewusst einschlagen. Es nennt sich Leben. Und das nimmt manchmal ungeahnte Wendungen und sorgt ständig für Überraschungen. Das Leben ist zu kurz, um das zu tun, was ich tun müsste, es ist gerade lang genug, das zu tun, was ich tun will.Tal Ben-Shahar

Es ist tragisch, aber gleichzeitig erstaunlich, dass Menschen unter dem Einfluss einer schlimmen Krankheit oder anderen dramatischen Wendungen schnell erkennen, dass wir nur im Hier und Jetzt leben. Das endliche Leben wird schlagartig Realität, Aufschieberei sinnlos. Fortan stehen Dankbarkeit für und Freude am Leben viel mehr im Mittelpunkt – jetzt, wo es noch geht.

Warum aber darauf warten, dass wir durch einen Schicksalsschlag anfangen, unser Leben bewusst zu leben? Alles was wir für ein sinnerfülltes und glückliches Leben benötigen, schlummert bereits in uns. Wir müssen nur anfangen, uns dies selbst zuzugestehen und verstehen, dass dies nichts mit richtig oder falsch, mit gesellschaftlichen Erwartungen oder Verpflichtungen zu tun hat. Wenn Menschen ihr persönliches Glück finden, profitieren auch alle um sie herum, egal ob privat oder beruflich. Fangen wir also an, zu leben, solange wir es noch so können, wie wir es uns eigentlich für die Zukunft wünschen.

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